Zur Geschichte des DCV

 

 

Schon über 60 Jahre wird in unserem Ort – auch als Strohkoppshausen bekannt – Karneval gefeiert. Er hat sich in dieser Zeit zu einer fröhlichen, manchmal auch frechen, immer aber lustigen Tradition gemausert. Fast 50 Jahre, unterbrochen nur von wenigen Ausnahmen, zogen anfangs an Fastnacht-Dienstag, später dann am Samstag vor Fastnacht die Narren bunt geschmückt, harmlose, oft aber auch geschickt versteckt politische Dinge aufgreifend, durch unser Städtchen. Die Straßen waren sogar bei schlechtem, noch mehr aber bei schönem Wetter von Neugierigen aus nah und Fern dicht gefüllt. Und alle erwiderten fröhlich den hier inzwischen auch zur Tradition gewordenen Narrenruf „Hotte Hü“, sangen mehr oder weniger gekonnt die vielen Karnevalslieder mit, die sich auf unseren Ort oder die nähere Umgebung bezogen, und schunkelten lustig mit am Straßenrand.

Auf den Büttensitzungen wurden diese, von Derenburgern getexteten und oft auch selbst komponierten Lieder im Wechsel mit humorvollen und deftigen Büttenreden vorgetragen. Wenn dann am Ende jeder Sitzung die populärsten und schönsten dieser Lieder in einem Potpourri gesungen wurden, dann war die Stimmung kaum noch zu steigern.

Und so ist es auch heute noch!

Wann und wie aber fing es an mit dem „Karneval in Derenburg“?

Wer vor allem war der Initiator der ersten Karnevalsveranstaltungen?

Den älteren Derenburgern ist das alles sicher noch bekannt. Den jüngeren und den „Taugetreckten“ aber soll es kurz erzählt werden.

Seit alters her war es in Derenburg – und sicher auch in den umliegenden Orten – Brauch, dass am Fastnacht-Dienstag die Kinder eine kleine, oft extra dafür gefertigte Bratwurst oder zumindest ein Stück davon mit in die Schule nehmen durften. Am Nachmittag gab es zu Hause zum Kaffe die mit Pflaumenmus gefüllten Pfannkuchen, die hier zumeist „Prillecken“ genannt wurden. „Prillecken und Bratwurst“, so hieß dann auch der erste Derenburger Karnevalsschlager. Er wurde von dem unermüdlich für die heimatliche Kultur wirkenden Georg Müller geschrieben. Und Georg Müller war es auch, der mit vieler Mühe den ersten Karnevalsumzug in Derenburg organisierte.

Es gab nämlich in unserem Ort noch einen weiteren karnevalistischen Brauch. Für diesen Tag wurden insbesondere von den Jungen der Stadt aus dünnen Weiden- oder Birkenzweigen die sogenannten „Fasselruten“ gebunden und oft mit einer bunten Schleife verziert. Ursprünglich sollten sie den länger werdenden Tagen entsprechend mithelfen, den Winter auszutreiben und sind wahrscheinlich noch ein Überbleibsel aus der heidnischen Zeit. Die Jungen aber nutzten sie nicht nur zu diesem Zweck, sondern verwen-deten sie, um damit die Mädchen auf dem Schulwege zu hänseln und manchmal auch mit ein paar Schlägen zu bedenken. Viele hatten sich dazu auch verkleidet und bunt geschminkt.

Um diesem „wilden Treiben“ einen gewissen Rahmen zu geben, hatte Georg Müller die Idee, im Jahre 1957 einen bunten Umzug durch unser Städtchen zu organisieren. Durch die von ihm bewerkstelligten vielen Busfahrten nach Halberstadt ins Stadttheater hatte er gute Verbindungen zum Intendanten und auch zu einigen Schauspielern. So gelang es ihm, einen Schauspieler aus diesem Ensemble zu überreden, als erster Prinz mit einer Prinzessin von der ehemaligen „Flohburg“ – Kenner wissen, was damit gemeint ist – dem Umzug in einer Kutsche voranzufahren. Und tatsächlich versammelten sich zur angegebenen Zeit um 14 Uhr auf dem Schützenwall eine große Anzahl bunt geschmückte und verkleideter Narren.

Es waren nicht nur Schulkinder und Jugendliche; auch viele Erwachsene wollten aktiv an diesem ersten Karnevalsumzug teilnehmen und erwarteten am Ortseingang den Prinzen mit seiner Prinzessin aus Richtung Halberstadt.

Es wurde ein herrlicher und schöner Umzug, der schließlich auf dem Marktplatz mit der Schlüsselübergabe durch den Bürgermeister an das Prinzenpaar endete. Feuchtfröhlich ging es von dort auf den Saal des „Bürgergartens“ bzw. auf den des „Weißen Adlers“, wo der Prinz mit der Prinzgemahlin den Tanz eröffnete. Aber auch in den anderen Gaststätten Derenburgs herrschte an diesem Tag lustiges karnevalistisches Treiben.

Dieser erste Umzug in Derenburg fand so viel Zustimmung, dass Georg Müller zu Beginn der nächsten Karnevalssaison frühzeitig viele begeisterte Einwohner fand, die sich schließlich zu einem ersten Elferrat organisierten. Sie bereiteten 1958 nicht nur einen weiteren Karnevalsumzug, sondern auch die ersten Büttensitzungen vor. Als erstes echtes Derenburger Prinzenpaar wurden der Fleischermeister Willi Rönnecke und Brigitte Wegener gekürt. Sie gingen als Willi I. und Brigitte I. in die Annalen der Derenburger Karnevalprinzenpaare ein. Als Präsident fungierte Georg Müller und als Zeremonien-meister der „lange“ Bernhard, der als Lehrer an der damaligen Landwirtschaftsschule angestellt war. Zum Elferrat gehörten u.a. Gustav Schweimler, Fritz Herzog, Otto Heyer, Kurt Hafermann, Ernst Jessenberger, Arno Milkowski und viele andere, deren Aufzählung hier zu weit führen würde. Auch Werner Nehrkorn gehörte diesem „Rat“ an und schlug damals als Karnevalsgruß das bekannte „Hotte Hü“ vor. Nach einigen erregten Diskussionen wurde der Ruf auch akzeptiert, da wir von dem Gedanken ausgingen, nicht den Rheinischen Karneval kopieren zu wollen, sondern einen eigenen, auf die Heimat bezogenen feiern zu sollen. Da passt für das Ackerbaustädtchen Derenburg der Ruf „Hotte Hü“ besser als „Helau“ und „Alaaf“.

Als 1959 die dritte Karnevalssaison in Derenburg begann, da konnte man auf die Erfahrungen der Vorjahre aufbauen und die Begeisterung vieler Derenburger für die Vorbereitung und Gestaltung der närrischen Tage und Wochen nutzen. Die Prinzengarde, die schon 1958 mit dem Prinzengardentanz geglänzt und im Umzug als einer der Höhepunkte gewirkt hatte, wurde weiter von Annemarie Hafermann und Herta Nehrkorn angeführt und im Tanz geübt. Blau-weiß waren die Farben der Schärpen, die die Elferratsmitglieder als ihr Kennzeichen über dunkle Anzüge trugen, blau-weiß waren die schmucken, selbst geschneiderten Kostüme der Prinzengarde und blau-weiß war die Standarte des „Derenburger Karnevals“, die Runo Mühe beim Einmarsch in den Saal und beim Umzug der Prinzengarde vorantrug. Blau und weiß waren so die Farben des Karnevals in Derenburg geworden. Auch die Derenburger Knüppelgarde unter der Leitung des Tambourmajors Fritz Steinmetz war von Anfang an mit von der Partie. Sie zog bei den Büttensitzungen mit Trommeln und Pfeifen vor der Prinzengarde und dem Prinzenpaar in den Saal und marschierte am Fastnacht-Dienstag dem närrischen Umzug durch Derenburgs Straßen voran.

Georg Müller fungierte wiederum als Karnevalspräsident und hatte organisatorisch die Zügel fest in der Hand. Als Zeremonienmeister unterstützte ihn in dieser Saison der Leiter der örtlichen landwirtschaftlichen Betriebe, Günter Hoffmann. Als Schriftführer und „Finanzminister“ protokollierte Arno Milkowski akribisch jede Elferratsversammlung und führte Buch über jeden Groschen, der eingenommen oder ausgegeben wurde. Leider sind diese Aufzeichnungen nicht mehr vorhanden. Sie hätten ein noch ausführlicheres Bild von den Anfängen des Karnevals in Derenburg geben können.

Eine nicht gerade leichte Aufgabe war es, für die kommende Saison ein weiteres Prinzenpaar aus Derenburg zu finden. Alle Mitglieder des Elferrates waren aufgerufen, sich an der Suche zu beteiligen. Aus diesem Grunde sprach auch der allen Derenburgern bestens unter dem Namen „Hindenburg“ bekannte Gustav Schweimler mit dem Leiter der damaligen BHG, Gerhard Sprögel. Nach einigen Bedenken und Rücksprache mit seiner Frau sagte Gerhard Sprögel schließlich am Abend der Jahreswende von 1958 zu 1959 ja zu diesem Ansinnen. Als seine Prinzgemahlin kürte er Gisela Sattler aus dem freien Felde.

Beide wurden somit als Gerhard I. und Gisela I. das zweite „echte“ Derenburger Prinzenpaar. Stattlich in der Figur, bravourös in Auftreten und redegewandt in Ansprache und Unterhaltung meisterten beide ihre Aufgaben als Tollitäten mit großer Souveränität.

Wurden 1958 insgesamt nur zwei Büttensitzungen – eine im Saale des Bürgergartens und eine in dem des Weißen Adlers – durchgeführt, so mussten 1959 der starken Nachfrage wegen bereits vier Büttensitzungen alternierend im Bürgergarten und im Weißen Adler durchgeführt werden. Man kann sich bestimmt vorstellen, mit welchem Aufwand jedes Mal die Aufbauten der Bühne und die der Bütt selbst von einem Saal in den anderen transportiert werden musste. Sicher, es gab damals als Aufbauten kaum mehr als Tische und Stühle, aber Arbeit – auch mit dem Schmücken der Säle – gab es genug. Die Bütt war übrigens aus einem großen Holzfass, das die Konservenfabrik Winter zur Verfügung gestellt hatte, aufgebaut worden. Die Sitzplätze für die vielen Zuschauer und Narren konnten auch in dieser Saison noch nicht nummeriert werden. So bekamen diejenigen die besten Plätze, die sich als erste vor der Abendkasse anstellten. Das geschah meist schon am frühen Nachmittag. Und nicht immer spielten sich beim Kampf um die besten Plätze schöne Szenen ab. Aber das tat der Begeisterung der Aktiven und der Zuschauer keinen Abbruch.

Die Qualität der Darbietungen, der Büttenreden und Karnevalsschlager konnte sicher nicht in jedem Falle mit „sehr gut“ bewertet werden. Aber das war auch nicht das Entscheidende. Sie brachten Freude und Frohsinn, ließen die Närrinnen und Narren fröhlich mit einstimmen und zeigten, dass man nicht nur am Rhein, sondern hier im Harz einen zünftigen, eigenständigen Karneval feiern konnte.

Es ist schwierig und birgt Gefahren in sich, wenn man aus der Vielzahl der aktiven Karnevalisten jetzt einige erwähnt werden. Gustav Schweimler begeisterte als Paulchen, wenn er von seiner Eulalia berichtete, alle Zuschauer. Fritz Herzog erzählte Witze am laufenden Band, Herrmann Koch berichtete Stippstöreken aus seiner Jugendzeit als Rennfahrer und „Duxer“ Heyer brachte in gekonnter Weise Couplets von Otto Reuter. „Die schönste Zeit im Jahr, das ist der Karneval…“ wurde getextet, vertont und vorgetragen von Ernst Jessenberger und Kurt Hafermann. Er ist noch heute der Eröffnungsschlager einer jeden Büttensitzung. Viele andere Schlager, die Gegebenheiten des Lebens in Derenburg persiflierten, hatten hier in den ersten Büttensitzungen ihren Ursprung und werden auch heute noch als echtes Derenburger karnevalistisches Liedgut gesungen.

Obwohl auch heute noch alle Aktiven des Karnevals ihre Tätigkeit unentgeltlich ausführen, spielte die finanzielle Seite auch schon 1959 eine erhebliche Rolle. Die Eintrittspreise für die Büttensitzungen waren relativ niedrig, aber die Unkosten – insbesondere für den närrischen Umzug – schon recht hoch.

Deshalb verkauften die Mädel der Prinzengarde in diesem Jahr erstmalig beim Umzug an die Zuschauer am Straßenrand Plaketten für eine Mark und verbesserten damit die Finanzen des Karnevalvereins. Nur dadurch war es überhaupt möglich, die Musiker für den Umzug zu bezahlen und gewisse Reserven finanzieller Art zum Anschaffen neuer Kostüme und Kappen für die Prinzengarde und den Elferrat zurückzulegen.

Erwähnt werden muss auch, dass es in diesen ersten Jahren üblich war, die Elferratssitzungen abwechselnd in jeder Gaststätte Derenburgs – und davon gab es damals noch eine ganze Anzahl – durchzuführen. Ebenso war es üblich, dass am Fastnacht-Dienstag sowohl auf dem Saal des Bürgergartens als auch auf dem des Weißen Adlers Tanzveranstaltungen stattfanden. Hierbei wurden manchmal sogar die besten Masken und Kostüme aus dem Umzug prämiert. Das Prinzenpaar zog am Abend mit einem Teil der Prinzengarde und des Elferrates durch die Straßen Derenburgs, erschien auf den Sälen und in den Gaststätten und sorgte überall für eine närrische Stimmung.

Nach drei Sessionen war der Karneval in Derenburg zu einer nicht mehr wegzudenkenden Tradition geworden. Wurde diese Art des Feierns und des Fröhlichseins nicht gerade von der staatlichen und parteilichen Obrigkeit gefördert, so wurde sie in diesen Jahren mehr oder weniger wohlwollend geduldet. In den Büttenreden und Schlagertexten waren derbe Witze und nicht zu heftige Kritiken an Missständen im Ort oder in der nächsten Umgebung durchaus enthalten. Ging es aber an die Partei, die ja bekanntlich immer recht hatte, oder gar an „hohe“ Persönlichkeiten, dann war Vorsicht geboten. Die Texte mussten in der Kreisstadt zu einer Art Kontrolle vorgelegt werden. In der Regel aber hatten bereits vorher freiwillige Selbstzensuren die Texte entschärft, so dass es selten zu Komplikationen kam.

Es war auch nun nicht mehr schwer, für jede Saison ein einheimisches Prinzenpaar zu finden. In dieser Festschrift befindet sich dann auch noch eine vollständige Aufzählung aller Derenburger Prinzenpaare.

Im Jahre 1963 jedoch musste der Karneval in Derenburg leider ausfallen. In ganz Mitteleuropa war die Maul- und Klauenseuche unter Rindern und Schweinen ausgebrochen. Und um eine weitere Ausbreitung möglichst zu verhindern, wurden in diesem Jahre alle öffentlichen Veranstaltungen in der DDR verboten.

Inzwischen war es den Organisatoren gelungen, die Sitzplätze an den langen zusammenhängenden Tafeln zu nummerieren, so dass die Karten im Vorverkauf erhältlich waren und es an den Abendkassen nicht mehr zu unliebsamen Szenen kommen musste. Das war für die fröhliche Stimmung auf den Büttensitzungen ein großer Gewinn. Sie waren bei fast allen Derenburgern und vielen Bekannten aus der Umgebung so beliebt geworden, dass zu den geplanten vier meist noch eine fünfte eingeschoben werden musste. Und alle waren stets ausverkauft.

Der Ablauf der Büttensitzungen glich in seinen Grundzügen schon in diesen Jahren dem des gegenwärtigen Ablaufs. Allerdings spielte während des Programms – beim Reinholen und Herausbringen der Büttenredner und Sängergruppen – meist eine Blaskapelle, während anschließend zum Tanz eine Tanzkapelle aufspielte.

So wurde eine Saison nach der anderen in Derenburg durchgeführt und der Karneval wurde hier zum absoluten kulturellen Höhepunkt im Laufe des Jahres. Noch immer war Georg Müller einer der wichtigsten Organisatoren des Karnevals. Als Präsident wurde jedoch schon 1960 Gerhard Sprögel aus den Reihen des Elferrates gewählt. Und man hatte die richtige Wahl getroffen. Durch seine ruhige aber auch bestimmte Art konnte er manche Unstimmigkeiten schlichten und alle Narren immer wieder dazu bringen, an einen Strang zu ziehen.

Im Jahre 1966 konnte so zum zehnten Male Karneval in Derenburg gefeiert werden. In der LDZ – der Tageszeitung der damaligen LDPD – erschien nach Abschluss des Jubiläum-Karnevals ein umfangreicher Bericht. Treffender als durch Ausschnitte aus diesem Bericht kann der damalige Ablauf, können Stimmung und Begeisterung kaum beschrieben werden. Der Artikel erschien in der LDZ am 25.Februar auf der Seite 8 unter der Überschrift: >> Derenburg feierte „seinen“ Karneval <<

 

„Kraftfahrer, die mit ihren Autos aus Richtung Wernigerode oder Halberstadt kamen, sahen sich am vergangenen Dienstag gegen 15 Uhr genötigt, vor bzw. in Derenburg einen längeren Halt einzulegen. Und sie waren gewiss nicht einmal böse über die total verstopften Straßen. Denn was sich ihnen hier bot, bekamen sie ganz sicher nicht alle Tage zu sehen: Ganz Derenburg feierte seinen zehnten Karneval! …..

Die von nahezu wolkenlosen Himmel strahlende Sonne – vermutlich das Jubiläums-geschenk des Wettergottes an die Derenburger Närrinnen und Narren – schien schon Stunden vor Beginn des Festumzuges auf die in den phantasievollsten Kostümen prangenden Derenburger Kinder, die es auf dem Marktplatz kaum erwarten konnten, dass es „losginge“. Da sah man Cowboys, Indianer, Vagabunden, Prinzessinnen, aber auch Weltraumfahrer und viele andere mehr. Die Eltern hatten sich alle Mühe gegeben, um dem Aussehen ihrer Sprösslinge den letzten Schliff zu verleihen.

Wie die Kleinen, so die Großen. Über welche Phantasie die Derenburger verfügen können, das sah man nicht nur an ihren Kostümen, sondern auch vor allem an der Ausstaffierung der mehr als zehn Fahrzeuge, die zum Korso angetreten waren. Da wurden aus Motorrädern durch entsprechende Verkleidung Flugzeuge, Hubschrauber, überdimensionale Kinderwagen. Eine Riesenrakete mit der Aufschrift „Auf zu den Mondkälbern“ prangte auf einem Traktor. „Hurra, ich bin gerettet“, verkündete eine Zuckerrübe, die ein RS 09 im Greifer hatte – „Wo bleiben die anderen?“

Es würde zu weit führen, alle Korso-Fahrzeuge zu beschreiben. Man muss eben selbst dabei gewesen sein, wie sich der bunte, Hunderte von Metern lange Zug durch die Derenburger Straßen wand, bis hin zum Bahnhof, wo seine Tollität Hans I. mit Prinzessin Helga, dem Elferrat und der Prinzengarde den „Vorbeimarsch abnahm“ – und dann wieder kreuz und quer durch Derenburg, voran der Prinzenwagen, eine Flut von Bonbons in die Kinderschar streuend. Der Elferrat allerdings musste auf „geborgtem Fahrzeug“ folgen, da die Pferde des Elferratswagen durchgegangen und damit in die Holtemme gerast waren; glücklicherweise war der Wagen leer, sogar Bier und Schnaps wurden gerettet!

Als dann der Derenburger Bürgermeister dem Karnevalsprinzen feierlich den Schlüssel der Stadt überreichte und dieser die Karnevalsgebote bekannt gab, konnte man auf dem Marktplatz vor Menschen kaum noch treten. In überfüllten Bussen waren sie von allen Richtungen her hier angekommen: aus Halberstadt, Wernigerode, Blankenburg und aus den umliegenden kleineren Ortschaften. Erstmalig beteiligten sich auch die Ströbecker mit ihrem lebenden Schachspiel am Umzug. Die nahezu 3000 Beteiligten kamen alle auf ihre Kosten: ebenso wie die Kinder, die den mit Würstchen behangenen Wagen unseres Parteifreundes Fleischermeister Rönnecke nach seiner „Freigabe“ begeistert plünderten.

So viel Begeisterung auf einem Fleck sollte man in dieser fast nördlichen Gegend Deutschlands kaum vermuten. Sie widerlegt aber deutlich die Behauptungen vieler, die da meinen, mit den Harzer Menschen lasse sich nichts zum Karneval auf die Beine stellen. …

Volle Berechtigung haben auch die Worte, die Karnevalspräsident Sprögel auf dem Marktplatz ausgerufen hatte: „Der Derenburger Karneval ist erst im Kommen!“ …..  Und die nächste „Prinzengardengeneration“, die ganz Kleinen, mischten schon fleißig mit. Auch qualifizierten sich schon wieder junge „Dichter“ zu Büttenrednern. Sie alle gebieten Gewähr dafür, dass der Derenburger Karneval sich weiterentwickelt, dass der diesjährige „Rekord“ schon in den nächsten Jahren überboten sein wird.“

 

So war es tatsächlich. Jahr für Jahr wurde in Derenburg der Karneval mit Frohsinn, guter Laune und Hasseröder Bier gefeiert. Um Nachwuchs brauchte man sich keine Sorgen machen. Neue weibliche und männliche Schlagerdichter und –sänger zeugten von der Sangesfreude der Derenburger. Und ebenso brachten neue Büttenredner neben denen der „ersten Stunde“ anderes Kolorit, andere Witze und Anekdoten in die Bütt. Die Närrinnen standen dem nicht nach. Auch sie erfreuten mit Reden und Sketchen das Narrenvolk im Saal.

 

Die Mädel der ersten Prinzengarde waren inzwischen in die Jahre gekommen, und mit dem Marschieren wollte es nicht mehr so recht klappen. Wenn auch Annemarie Hafermann oftmals im Scherz zu Herta Nehrkorn (beide hatten bekanntlich in den ersten Jahren die Prinzengarde angeführt und angeleitet) sagte: Wettste wat, Herta, schitt, bett tau de Wesseljahre makt we noch mit!, so hatten sich doch eine Vielzahl jüngerer Mädel gefunden, die gern und voller Begeisterung in einer verjüngten Prinzengarde mitwirkten. Die Leitung und Einübung übernahm dann auch bald Gisela Mühe. Auch sie meisterte mit Bravour und Können die nicht immer leichte Aufgabe.

Es war jedes Mal eine Augenweide, die schmucken Mädel zum Prinzentanz in den Saal einmarschieren zu sehen. Nicht geringen Anteil daran hatten die Frisösen und Friseure, die nicht nur den Mädels ein entsprechendes „Make up“ gaben, sondern auch die anderen Aktiven durch Schminken zu dem fröhlichen und passenden Aussehen verhalfen. Auch an dieser Stelle sei es gestattet, auf das Nennen von Namen zu verzichten, um nicht durch unbeabsichtigtes Vergessen des einen oder anderen ins Fettnäpfchen zu treten. Erwähnt werden muss aber auf jeden Fall, dass alle diese Arbeiten unentgeltlich ausführten und dass sie oftmals zu bedauern waren, da sie in der Frisörstube oft nichts von der Stimmung im Saal, vom Schunkeln und Fröhlichsein mitbekamen.

Leider stellten sich dem Elferrat in manchen Jahren unerwartete Schwierigkeiten in den Weg. Wenn es dann im Herbst mit Riesenschritten dem 11.11. und damit dem Beginn der Karnevalssaison entgegenging, dann wurde plötzlich festgestellt, dass der Saal des Weißen Adlers nicht mehr standfest genug war oder das die Schornsteine nicht mehr den Anforderungen genügten und demzufolge nicht mehr geheizt werden konnte. Von staatlicher Seite und selbst von Seiten der Konsum-genossenschaft, die inzwischen Besitzer des Weißen Adlers geworden war, wurden beim Beseitigen der Mängel kaum Hilfe gewährt. Es waren die Handwerker des Elferrates und einiger Betriebe, die mit selbstlosem Einsatz dafür sorgten, dass der Karneval zur rechten Zeit beginnen konnte. Inzwischen war auch für die Bühne ein aufbaubarer Podest konstruiert worden, auf dem die Mitglieder des Elferrates umsäumt von den Mädels der Prinzengarde Platz nehmen konnten. Auch die Bühne wurde durch einfache Umbauten vergrößert, so dass sich insgesamt dem närrischen Volk vom Saal aus ein sehr schönes, buntes Bild bot.

Höhepunkt des Karnevals in Derenburg war aber nach wie vor der Umzug der Narren durch die Straßen der Stadt. Dadurch unterschied er sich von allen Karnevals-veranstaltungen der näheren und weiteren Umgebung. In den Städten Wernigerode, Blankenburg, Ilsenburg und selbst in kleineren Orten wie Heimburg, Benzingerode und Heudeber hatten sich inzwischen im Rahmen der Dorfklubs Karnevalsvereine gegründet. Aber sie gestalteten nur Büttensitzungen und Rosenmontagsfeiern. Die Tradition der Narrenumzuges blieb den Derenburgern vorbehalten. Wenn die Zeit der Saison herankam, dann juckte es in den Fingern und zuckte es in den Beinen vieler Derenburger. Und rechtzeitig zur ersten geplanten Büttensitzung stand ein Programm auf der Bühne, dass sich sehen lassen konnte. So war es auch mit dem Umzug. Das Wetter zeigte sich von der unter-schiedlichsten Seite. Mal regnete oder schneite es sogar, mal herrschte schon das beste Frühlingswetter, immer aber zog sich ein bunter Zug von närrischem Fußvolk und geschmückten Wagen durch die Straßen des Ortes. Tage- und wochenlang hatten sich die Teilnehmer zumeist in den Betrieben darauf vorbereitet.

So ging es bis 1983. Dann jedoch kam fast das „Aus“ für den Derenburger Karneval. Nicht der oft als baufällig verschriene Saal des Weißen Adlers, sondern das andere Gaststättengebäude wurde abgerissen. Zwei Jahre konnte in unserer Stadt kein Karneval gefeiert werden. Länger hielten es aber die Derenburger nicht aus. Obwohl der Weiße Adler noch längst nicht wieder aufgebaut worden war, feierte man 1986 wieder Karneval in Derenburg, diesmal jedoch im viel kleineren Saal des Bürgergartens und diesmal ohne Prinzenpaar. Zwei weitere Jahre musste man in dem zwar kleineren, aber dafür gemütlicheren Saale die Büttensitzungen durchführen.

Als im November 1988 die neue Karnevalssaison in Derenburg begann, waren das Wirtschafts- und Gaststättengebäude des Weißen Adlers endlich aufgebaut und der Saal renoviert. Damit konnten die Büttensitzungen 1989 wieder für dieses Haus eingeplant werden. Waren auch die zwischenzeitlich im Bürger-garten durchgeführten Sitzungen voller Gemüt-lichkeit und wurden die Karnevalisten auch vom Gaststättenehepaar Engel bestens unterstützt, so waren im Weißen Adler Saal und Bühne doch um etliches größer und das Ambiente niveauvoller. Am Programm-ablauf und am Organi-satorischen wurde aber nichts Wesentliches geändert. Das ergab sich erst nach der politischen Wende im Herbst 1989. Es wurde bereits erwähnt, dass den Karnevalisten in den Jahren der DDR die Zensur kaum Schwierigkeiten gemacht wurde. Nun aber war es möglich, ohne auf Repressalien gefasst zu sein, seine Meinung über Politik und Politiker ungehindert aus der Bütt als Kritik zu artikulieren. Aber übertrieben wurde das auch nach der Wende nicht. Die meisten Büttenreden und Schlager sowie auch die Wagen und Gruppen im Umzug befassten sich nach wie vor mit regionalen und lokalen Missständen.

Etwas anders verlief die Wende in Bezug auf die Organisationsform. War bis dahin der Karnevalsverein dem Dorfklub angeschlossen, so musste er jetzt zu einem eingetragenen selbständigen Verein werden. Die Vorarbeiten dazu wurden in erster Linie vom Präsidenten G.Sprögel durchgeführt. Anlässlich der Mitgliederversammlung am 24.4.1990 wurde von ihm der Rechenschaftsbericht über die letzte Saison gegeben und der Satzungsvorschlag für den neuen Verein vorgestellt. Nach eingehender Beratung dieses Vorschlages und einigen Änderungen wurde G.Sprögel erneut als Präsident gewählt. Am 02.10.1990 wurde der Verein dann unter dem Namen „Derenburger Carnevals-Verein“ (DCV) eingetragen. Damit war die Grundlage für das Fortbestehen des Karnevals in Derenburg gegeben.

In dieser Zeit vollzog sich auch langsam und kaum merklich der Generationswechsel im Elferrat und bei den übrigen Aktiven. Gisela Gronert hatte bereits 1987/88 die Organisation und Einstudierung der Prinzengarde übernommen und Karsten Selle vertrat in zunehmenden Maße den Vereinspräsidenten während der Büttensitzungen als Sitzungspräsident. Auch andere Funktionen im Elferrat wurden nach und nach von jüngeren Mitgliedern übernommen. Um den Nachwuchs in der Bütt und bei den Schlagersängern brauchte man sich in Derenburg noch nie Sorgen zu machen. So konnte auch nach der Wende in jedem Jahr ein langes, abwechslungsreiches Programm guter Qualität gestaltet werden. Auch in der Begleitung der Sitzungen durch Musik und beim anschließenden Tanz vollzog sich ein Wechsel. Hatten in den letzten Jahren die Derenburger Tanz-Combo unter der Leitung von Ullrich Mühlenberg diese musikalische Seite des Karnevals ausnahmslos gut durchgeführt, musste nach der Selbstauflösung dieser Kapelle eine andere gefunden werden. Bei den Auftaktveranstaltungen im November jeden Jahres hatte wiederholt eine Kapelle aus Staßfurt unter Leitung von Gerhard Dahlmann gespielt. Diese war dann auch bereit, diese Aufgaben bei den Büttensitzungen durchzuführen. Trotz geringer anfänglicher Schwierigkeiten gelang das viele Jahre auch recht gut.

Um die Weihnachtszeit 1989 wurde die erste Verbindung mit einer Karnevalsgemeinschaft der alten Bundesländer geknüpft. In Salzgitter hatte man irgendwie vom karnevalistischen Treiben in Derenburg gehört, und so setzte sich eine kleine Delegation persönlich mit dem Präsidenten G.Sprögel in Verbindung. Diese „Gemeinschaft der Karnevalsfreunde Salzgitter“ führte aber in jedem Jahr nur eine Veranstaltung durch. An dieser nahm für einige Jahre auch eine Delegation des Derenburger Vereins teil, und einige Büttenredner und –sänger aus Derenburg bereicherten das Programm in Salzgitter. Dafür unterstützten uns die Karnevalsfreunde bei der Ausgestaltung des Saales im Weißen Adler. Leider aber konnte diese Verbindung nicht länger ausgebaut werden, da der Termin der Büttensitzung in Salzgitter mit dem Termin des Karnevalsumzuges in Derenburg zusammenfiel und keiner auf seine Tradition verzichten konnte und wollte.

Inzwischen war anlässlich einer Mitgliederversammlung im Jahre 1991/92 Karsten Selle als neuer Präsident gewählt worden. Aus Altersgründen hatte G.Sprögel seine Kandidatur für dieses Amt nicht noch einmal wahrgenommen. Er wurde aber einstimmig zum Alterspräsidenten gewählt und versprach, seine langjährigen Erfahrungen dem Verein weiterhin zur Verfügung zu stellen.

Nach der Wende machten sich verständlicher Weise finanzielle Probleme immer stärker bemerkbar. So konnten die erheblich gestiegenen Unkosten kaum noch von den Eintrittskarten bezahlt werden. Der Kinderkarneval und die Büttensitzungen für die Senioren sollten nach wie vor unentgeltlich durchgeführt werden; auch beim Karnevalsumzug ließ sich keine neue Geldquelle erschließen. So ist verständlich, dass die Eintrittsgelder für die Büttensitzungen auf ein zum Glück noch erträgliches Maß erhöht werden mussten und die Mitglieder des Vereins jeden Monat einen Obolus als Beitrag bezahlen müssen. Da aber auch dadurch noch keine Deckung der Ausgaben erreicht werden konnte, mussten Sponsoren als Freunde des Karnevals gefunden werden, die durch finanzielle Unterstützung dafür sorgten und noch sorgen, dass der traditionelle Karneval in Derenburg nicht den Finanzen zum Opfer fällt. Zum Glück ist das auch gelungen und bleibt hoffentlich auch so.

Mitte der 90er Jahre verlief jede Saison erfolgreich. Verhältnismäßig lange Programme erfreuten Dank des gestiegenen Niveaus alle Besucher, die bei Bier, Wein und guter Laune den Büttenrednern lausch-ten und bei Karnevals-schlagern kräftig mit-sangen und mit-schunkelten. Leider war es wiederum nicht möglich, alle Wünsche nach Eintrittskarten zu erfüllen, da nun einmal der Saal im Weißen Adler zu klein ist und mehr als 7 Büttensitzungen in einer Saison kaum durchzuführen sind. In einem Schlager der Geschwister Rhien hieß es schon vor Jahren: „In uns´res Vaters Scheune, da bau´n wir einen Saal …“. Aber bisher hat man diese Scheune und damit auch diesen Saal noch nicht gefunden. Schade!            

 

In der Karnevalssession 1996/97 konnte nach 40 Jahren eine großartige Jubiläumssaison gefeiert werden.

Inzwischen führte Frank Heyer als Zeremonienmeister mit Witz und Charme durch das Programm, zur Eröffnung tanzten Gisela Lücke als Funkenmariechen und Achim Zabel als Gardemajor den Eröffnungstanz. Geblieben waren z.B. Frank Heyne als Büttenredner, der nun schon seit über einem Jahrzehnt als Stammtischler den Leuten kund tut, was an deutschen Biertischen auf die Schippe genommen wird und Inge Büttner, die noch heute mit ihrer Stimme die Leute verzaubert. Viele Jahre war der Hofnarr Werner Bodenstedt ein fester Bestandteil des Programms. Mit seinen Liedern begeisterte er regelmäßig das Publikum.

Zu der sich ständig erneuernden Prinzengarde mit Garde- und Showtanz kamen mit den Jahren u.a. das Frauen- und das Männerballett dazu. Letzteres sorgte mit dem Auftritt als Nonnen für ein fast unvergessliches Highlight.

Als fortschrittlicher Verein wurde natürlich auch an die, wenn auch kostenintensive,  schrittweise Modernisierung der Technik gedacht. Waren vor Jahren sogar noch Plattenspieler in Gebrauch, so sorgt heute ein Technikteam für beste Beschallung und effektvolle Beleuchtung.

Auch bei den Kapellen gab es Veränderungen. Nach den Staßfurtern folgte ein dreijähriges Intermezzo mit einer einheimischen Band, die aber durch ihr Auftreten vor allem Kritiker auf den Plan rief. Seit der Saison 2001/02 unterstützt die Band von Walter Hartmann den Derenburger Karnevalsverein bei seinen Büttensitzungen. Durch ihre hochgradig professionelle Art, u.a. bekommt jeder Programmpunkt seinen individuellen Einmarsch, hat sie sich in kürzester Zeit großes Ansehen erworben.

Trotz alledem oder nebenbei blieb dem Verein manches nicht erspart. Nach dem Tode eines Kneipers des Weißen Adlers folgte das Gastspiel eines Quedlinburgers als „Hotelier“. Da er aber die Arbeit nicht erfunden hatte, folgte das vorhersehbare Aus in der Pleite. Der Vorstand des DCV musste handeln und mietete das Dorfgemeinschaftshaus in Danstedt. Aus einem Jahr wurden drei Jahre, in denen die Zuschauerzahlen trotz Busshuttle und bequemerem Sitzen immer mehr sanken. Im Herbst 2004 übernahm ein Franzose den Weißen Adler, um daraus ein Gourmet-Restaurant zu machen. Die pfefferigen Preise für Speisen und Getränke mussten die Derenburger schlucken, damit sie mal wieder im Ort Karnevalssitzungen erleben konnten. Da der Wirt nicht einsah, dass man in Deutschland mehr Bier als Wein trinkt, machte er im Frühjahr 2005 wieder zu. Es folgte eine Lösung, mit der die meisten so kurzfristig nicht gerechnet hätten: Eine einheimische Familie mit gastronomischer Erfahrung übernahm den Weißen Adler und wird ihn noch hoffentlich lange führen.

(Wolfgang Zettl, 2006)